Donat F. Keusch, Schweiz, März 2008
SÜRÜ – Das Meisterwerk
Es war im Februar 1979 während des Filmfestivals von Berlin, als mir nahe-gelegt wurde, einen türkischen Film im Forum-Programm anzuschauen. Die Vorführung fand im alten Kino Arsenal statt, einem der schlechtesten Kinosäle von ganz Berlin. Das Kino war total überfüllt mit feuchten Menschen und ich setzte mich auf meinen Aktenkoffer am Rand. Dies und die Tatsache, dass ich wegen einer Augenentzündung nur eingeschränkt sehen konnte, vergaß ich sehr schnell während der Vorführung des besten türkischen Films aller Zeiten: „SÜRÜ“ (Die Herde), geschrieben und produziert vom Häftling Yılmaz Güney, von der Regieseite her betreut von Zeki Ökten. Die vorgeführte Filmkopie war grauenhaft schlecht, die Untertitel unvollständig und von unakzeptabler Qualität. Aber all dies konnte die tiefen Wahrheiten, die dieser Film erzählte, und die Kraft dieses Kunstwerkes nicht beschädigen. Niemand verließ den Saal vorzeitig. Mein Aktenkoffer ist immer noch beschädigt von meiner denkwürdigen ersten Bege-gnung mit dem Schaffen eines der größten Künstler des 20. Jahrhunderts.
Als Geschäftsführer der Verleih-, Weltvertriebs- und Produktionsfirma Cactus Film war ich unter anderem mit dem Einkauf von Filmen beschäftigt. Ich wollte „SÜRÜ“ sofort für die Auswertung in der Schweiz kaufen, aber die beiden Frauen der Verlagsfirma Umut Sanat, die den Film in Berlin vertraten, hatten keine Erfahrung mit dem Verkauf von Filmlizenzen. Als es mir nicht gelang, sie davor zu bewahren, sich von einem deutschen Einkäufer übers Ohr hauen zu lassen, beschloss ich, den Film direkt bei der Produktionsfirma Güney Filmcilik in Istanbul zu kaufen.
Der Beginn einer Freundschaft
Anfangs Sommer 1979 diskutierte ich in Istanbul mit dem Geschäftsführer von Güney Filmcilik und seiner übersetzenden Kollegin während drei Tagen poli-tische Fragen. Nebenbei versuchte ich, diesen Filmhandelslaien beizubringen, was ein Lizenzvertrag ist und wie er partnerschaftlich zu gestalten wäre. Sie wollten, dass ich die angebotene Minimumgarantie bar auf den Tisch lege und mir im Gegenzug drei 35mm-Kopien des Films (60 kg) und Werbematerial (20 kg) aushändigen. Als sie begriffen hatten, dass man auf diese Weise solche Geschäfte nicht macht, haben sie mich am 4. Tag mehr als eine Stunde durch Istanbul gefahren, bis ich nicht mehr wusste, wo ich war. Sie teilten mir mit, dass wir nun in Yılmaz Güney’s Wohnung gehen würden, um ein paar Leute zu treffen. Als ich dort eintrat, waren ca. 15 Leute im Wohnzimmer und obwohl ich Güney noch nie gesehen hatte, wusste ich sofort, dass er anwesend war. Er strahlte eine solch seltsame Kraft aus, dass man sich automatisch ihm zuwandte. Wir hatten ein Gespräch über politische Fragen und über seine persönliche Situation. Er meinte, dass es 1980 eine Amnestie geben würde und glaubte mir nicht, dass die Mächtigen seines Landes ihn niemals wieder freilassen würden.
Leider behielt ich recht. Im Jahre 1980 fand ein Militärputsch statt und gegen Yılmaz Pütün wurden wegen der Erwähnung des kurdischen Volkes in Gruß-botschaften an Festivals weitere Prozesse angekündigt, die ihn für mindestens zusätzliche 20 Jahre im Gefängnis halten sollten.
Er entschied schweren Herzens, sein Land zu verlassen, was schließlich mit Hilfe von europäischen Freunden im Oktober 1981 gelang. Mit Hilfe von Jules Dassin und Melina Mercouri wurde die französische Mitterrand-Regierung überzeugt, Güney Asyl zu gewähren. Ich war für die Planung und die komplizierte Durch-führung seiner Flucht aus dem Gefängnis in Isparta und aus seinem Land verant-wortlich. Wir haben mit meinem Plan A angefangen und mit dem Plan B das Ganze erfolgreich abgeschlossen. Auf die Euphorie über die gelungene Befreiung folgte drei Jahre später die Trauer, als er in Paris einem Krebsleiden erlag.
„Güney“ heißt „Süden“ und war Yılmaz‘ Künstlername. Dieser Mann war in den 70er und 80er Jahren neben Atatürk der bekannteste Mann der Türkei und wird bis heute von großen Teilen des Volkes verehrt. Trotz weitgehenden Anstrengun-gen der faschistischen Militärjunta und ihren nachfolgenden Marionetten-regierungen ist es nicht gelungen, das Andenken an diesen großen Freund des Volkes, Künstler und Politiker zu beschädigen. In seinen Filmwerken „YOL“ (Der Weg), „DÜŞMAN“ (Der Feind), „SÜRÜ“ (Die Herde) und vielen anderen lebt er weiter.
„YOL“ (Drehbuch- und Arbeitstitel BAYRAM) wurde von meiner Firma Cactus Film produziert und Güney Filmcilik führte in unserem Auftrag die Dreharbeiten in der Türkei durch. Der Film lief in unfertiger, im letzten Moment zusammen geschnittenen Fassung im Wettbewerbsprogramm von Cannes 1982 und gewann zu unserer Überraschung die Goldene Palme.
Donat F. Keusch, Schweiz, März 2008